BR-Andacht vom 13.07.2025
Mit dem Rücken zur Wand

Hatte ich schon ewig vor. Jetzt pack ich’s an. Ich stehe vor meinem Bücherregal und drehe alle Bücher von männlichen Autoren um. Ab mit dem Rücken zur Wand. Den Trend hab ich mal auf Instagram gesehen. Das Ergebnis überrascht mich dann aber doch. Fast alle Bücher stehen verkehrt herum. Ich merke: Das reicht tiefer. Ich bin in einer Freikirche aufgewachsen. Immer standen Männer vorne. Auch im Theologie-Studium: fast nur Männer halten die Vorlesungen. Ich habe das lang nicht hinterfragt.
Das will ich ändern. Ich will genauer hinschauen, was ich konsumiere. Neugierig sein. Auf Schwarze Autorinnen. Auf queere Stimmen. Auf Geschichten von Menschen, die oft übersehen werden. Es geht mir nicht darum, männliche Sichtweisen auszusortieren. Es geht darum, andere Stimmen dazuzuholen. Was mich gerade total inspiriert: Ein Buch von Marianne Budde. Sie ist Bischöfin in Washington. Es heißt „Mutig sein“. Es geht ums Entscheiden.Was ist dran im Leben? Manchmal muss man durchhalten. Ein anderes Mal neu anfangen. Manchmal ist es mutig, etwas zu akzeptieren, was ich mir nie ausgesucht habe.
Bei mir ist gerade neu sortieren dran. Im Bücherregal und im Kopf. Mein neues Bücherregal verändert meinen Blick – auch auf Gott. Da ist nicht die eine göttliche Stimme. Da sind viele Stimmen. So viele Möglichkeiten, sich Gott vorzustellen. Gott ist für mich politischer geworden. Und weiblicher. Ich bleib dran. Malschauen, was ich als Nächstes entdecke.
Rahel Pereira
BR-Andacht vom 11.07.2025
Gottes Zettelwirtschaft

„Für immer mit dir“ steht da auf einem zerknitterten Zettel. Daneben hingekritzelt: „Thank you for saving my life. Danke fürs Leben retten.“ An derDecke baumelt eine krakelige Kinderzeichnung mit einem Haus und vielen Menschen darin.
Ich bin in einer Holzhütte im schottischen Wald, umgeben von unzähligen Botschaften. Die Wände, die Decke – alles ist bedeckt mit flatterndem Papier. Eine Zettelwirtschaft. Die Schotten nennen sie Paper Cabin.
An der Wand steht ein Tisch mit Stiften und leeren Blättern. Mit geschwungenen Buchstaben schreibe ich den Namen einer verstorbenen Freundin auf und pinne den Zettel in die Nähe des Fensters.
Mein Leben fühlt sich auch manchmal an wie eine Sammlung von beschriebenen und unbeschriebenen Blättern. Manches ist erst Entwurf, anderes gelebte Geschichte. Nicht alles fügt sich nahtlos aneinander. Vieles bleibt offen, unvollendet, rätselhaft.
Die Paper Cabin auf der Insel Arran berührt mich. Fremde Menschen teilen Verbindungen, ihre Sehnsucht, wunde Punkte. Die Hütte nimmt die Lebensgeschichten in sich auf und verwahrt sie sorgfältig. Alles findet Platz: Erfüllte und geplatzte Träume.
Ich stell mir vor: Die Zettelwirtschaft ist ein Haus, in dem Gott wohnt. Gott sammelt unsere Geschichten und hebt sie auf. Schaut liebevoll drauf und gibt jedem Zettel einen Platz. Schafft Verbindungen, wo keine waren.
Und am Ende ergibt alles, ich weiß nicht wie, ein einziges großes Ganzes.
Rahel Pereira
BR-Andacht vom 09.07.2025
Seid Menschen!

„Seid Menschen.“2
Das hat Margot Friedländer gesagt.
Vor Schulklassen. In Talkshows und Interviews.
Immer wieder. Vor genau zwei Monaten ist sie mit 103 Jahren gestorben.
Bis zuletzt war sie unterwegs, als Zeitzeugin und Mahnerin.
Margot Friedländer überlebt als Jüdin das Konzentrationslager in Theresienstadt. Sie verliert fast alles. Trotzdem wirkt sie nicht verbittert. Mit über 80 Jahren kehrt sie aus den USA zurück nach Berlin. Um zu erzählen und zu erinnern.
„Seid Menschen,“ sagt sie immer wieder.
Der Satz hallt nach. Klar, einfach, unmissverständlich. Doch was heißt das – heute, jetzt, für mich?
Vielleicht sowas wie:
Ich melde mich zu Wort, wenn im Lehrerzimmer ein rassistischer Kommentar fällt.
Ich widerspreche, wenn auf einer Party jemand gegen Jüdinnen und Juden hetzt.
Ich höre zu, wenn Menschen erzählen, wie sie diskriminiert werden.
Ich frage, was sie von mir brauchen.
Und ich hinterfrage mich selbst: Welchen Meinungen gebe ich Raum und welchen nicht? Wo übersehe ich Menschen, die da sind?
Ich möchte von dieser Frau lernen. Und ich danke Gott für das Leben von Margot. Ich danke ihr für das Leben, das sie geführt hat.
Für ihre Haltung. Ihr unermüdliches Dranbleiben.
Und für diesen Satz: „Seid Menschen.“
Rahel Pereira
2 Vgl. z. B. URL: https://taz.de/Holocaustueberlebende-Margot-Friedlaender/!5857241/
BR-Andacht vom 7. Juli 2025
Eine Sprache für Gefühle

102 wäre mein Opa dieses Jahr geworden. Ein einziges Abenteuer – so hörte es sich an, wenn er mir früher von seinem Leben erzählt hat.
„Ein richtiger Lausbub war ich“, sagte er und blinzelte schelmisch. Als junger Mann ist er im Krieg in Russland. Und weil er ein Schlitzohr ist, schlägt er sich durch. Er flieht vor der SS, überlebt eine Bombe, entkommt der Kriegsgefangenschaft, weil er ein Gespräch belauscht. Spannend.
Später habe ich kapiert: Diese Helden-Stories waren vielleicht die einzigen Worte, mit denen er über eine schreckliche Zeit reden konnte. Der Krieg ist seit 80 Jahren vorbei. Bis heute weiß ich nur wenig über das, was meinen Opa wirklich bewegt hat.
Was hätte ich ihn gerne alles gefragt! Hätte er darauf geantwortet? Die Wunden waren tief, die Gefühle verschüttet. Trauma macht stumm. Seine Generation hat gelernt: Schluck es runter, red nicht drüber.
Ich unterrichte Evangelische Religion in der Grundschule. Die Stunde beginnt mit einer Frage: „Wie fühlt ihr euch heute?" Danach legen wir unsere Gefühle – die schönen und die schweren – mit einem Gebet in Gottes Hände.
Die Kinder lernen: Ich darf spüren, was in mir ist. Ich darf es aussprechen: Freude und Angst, Stolz und Frust.
Und ich bin von Gott genau so gewollt – mit allem, was mich bewegt.
Wenn ich in ihre Gesichter schaue, denke ich an meinen Opa. Hoffentlich wächst heute eine Generation heran, die eine Sprache für ihre Gefühle hat.
Rahel Pereira
BR-Andacht vom 5. Juli 2025
Gesucht und Gefunden

H-a-a-r-gummis, tippe ich auf meine Besorgungsliste. Ich hab nämlich keine mehr.
Keine Ahnung, wo die alle geblieben sind. In der Schale liegt zumindest keines mehr. Ich verlege ständig irgendwas: Schlüssel, Sonnenbrille, Hundeleine. Was ich merke: Immer, wenn ich schusselig werde, bin ich gerade nicht da. Ich bin in Gedanken beim nächsten Termin, während die Hände das Haargummi auf ein Regal legen. Ich lege den Schlüssel aufs Fenstersims und räume gedanklich schon die Spülmaschine aus. Ich verstaue die Hundeleine in der Schublade und plane das Wochenende. Die Gegenstände sind nicht mehr da, weil ich nicht da bin. Vielleicht brauche ich mehr Gegenwart.
Mehr Hier und Jetzt.
Der Theologe John Mark Comer1 beschreibt das so: Wir leben in ständiger Hetze, immer einen Schritt voraus – und verpassen das Leben selbst. Und nicht nur das. Die Eile raubt mir das Gespür dafür, dass Gott da ist. Der Vorschlag: Langsamer werden. Und so Gott in den kleinen Momenten begegnen. Wenn ich das Haargummi in die Schale lege, oder den Schlüssel aufhänge.
Ich versuch das jetzt. Zwischendurch innehalten. Durchatmen. Und spüren: Wo bin ich gerade? Was tue ich? Gestern Abend habe ich's wieder probiert. Habe das fluffige Haargummi in meiner Hand gespürt. Dann in die Schale gelegt.
Überraschung: Heute morgen lag es noch da.
Rahel Pereira
1 )Vgl. Comer, John Mark: Das Ende der Rastlosigkeit. Mach Schluss mit allem, was dich hetzt - und komm bei Gott an. R.Brockhaus Verlag, 2021