BR-Andacht vom 7. Juli 2025

Eine Sprache für Gefühle

102 wäre mein Opa dieses Jahr geworden. Ein einziges Abenteuer – so hörte es sich an, wenn er mir früher von seinem Leben erzählt hat.

„Ein richtiger Lausbub war ich“, sagte er und blinzelte schelmisch. Als junger Mann ist er im Krieg in Russland. Und weil er ein Schlitzohr ist, schlägt er sich durch. Er flieht vor der SS, überlebt eine Bombe, entkommt der Kriegsgefangenschaft, weil er ein Gespräch belauscht. Spannend.

Später habe ich kapiert: Diese Helden-Stories waren vielleicht die einzigen Worte, mit denen er über eine schreckliche Zeit reden konnte. Der Krieg ist seit 80 Jahren vorbei. Bis heute weiß ich nur wenig über das, was meinen Opa wirklich bewegt hat.

Was hätte ich ihn gerne alles gefragt! Hätte er darauf geantwortet? Die Wunden waren tief, die Gefühle verschüttet. Trauma macht stumm. Seine Generation hat gelernt: Schluck es runter, red nicht drüber.

Ich unterrichte Evangelische Religion in der Grundschule. Die Stunde beginnt mit einer Frage: „Wie fühlt ihr euch heute?" Danach legen wir unsere Gefühle – die schönen und die schweren – mit einem Gebet in Gottes Hände.

Die Kinder lernen: Ich darf spüren, was in mir ist. Ich darf es aussprechen: Freude und Angst, Stolz und Frust.

Und ich bin von Gott genau so gewollt – mit allem, was mich bewegt.

Wenn ich in ihre Gesichter schaue, denke ich an meinen Opa. Hoffentlich wächst heute eine Generation heran, die eine Sprache für ihre Gefühle hat.


BR-Andacht vom 5. Juli 2025

Gesucht und Gefunden

H-a-a-r-gummis, tippe ich auf meine Besorgungsliste. Ich hab nämlich keine mehr.

Keine Ahnung, wo die alle geblieben sind. In der Schale liegt zumindest keines mehr. Ich verlege ständig irgendwas: Schlüssel, Sonnenbrille, Hundeleine. Was ich merke: Immer, wenn ich schusselig werde, bin ich gerade nicht da. Ich bin in Gedanken beim nächsten Termin, während die Hände das Haargummi auf ein Regal legen. Ich lege den Schlüssel aufs Fenstersims und räume gedanklich schon die Spülmaschine aus. Ich verstaue die Hundeleine in der Schublade und plane das Wochenende. Die Gegenstände sind nicht mehr da, weil ich nicht da bin. Vielleicht brauche ich mehr Gegenwart.

Mehr Hier und Jetzt.

Der Theologe John Mark Comer1 beschreibt das so: Wir leben in ständiger Hetze, immer einen Schritt voraus – und verpassen das Leben selbst. Und nicht nur das. Die Eile raubt mir das Gespür dafür, dass Gott da ist. Der Vorschlag: Langsamer werden. Und so Gott in den kleinen Momenten begegnen. Wenn ich das Haargummi in die Schale lege, oder den Schlüssel aufhänge.

Ich versuch das jetzt. Zwischendurch innehalten. Durchatmen. Und spüren: Wo bin ich gerade? Was tue ich? Gestern Abend habe ich's wieder probiert. Habe das fluffige Haargummi in meiner Hand gespürt. Dann in die Schale gelegt.

Überraschung: Heute morgen lag es noch da.

Rahel Pereira

1 )Vgl. Comer, John Mark: Das Ende der Rastlosigkeit. Mach Schluss mit allem, was dich hetzt - und komm bei Gott an. R.Brockhaus Verlag, 2021